Guten Morgen lieber Tiberis,
zunächst möchte deutlich machen, wie sehr ich mich über eine so scharfsinnige wie ausführliche Kommentierung freue. Eine solche kostet Zeit und ist auch von Titanen des Forums nicht unbedingt zu erwarten! Ich hoffe, dass die folgenden Ausführungen nicht nur uns, sondern auch so manchem stillen Leser die Problematik, in der wir uns bewegen, aus einer weiteren Sicht zugänglich machen.
Zur Theorie der Übersetzung, die mein Vorgehen notwendig zu machen schien:
Der inhärente Widerspruch zwischen ausgangssprachenorientierter, anti-literarischer, wörtlicher Übersetzung und zielsprachenorientierter Übertragung mit zuweilen eigenem literarischen Wert kennt man ja zu gut allein aus dem Vergleich einer Prosaübersetzung etwa aus dem Unterricht, die oft zu einer "lateindeutschen" Interlinearversion führt, mit beispielsweise der altertümlichen, aber spektakulären (und dabei weit vom Wortlaut des Original entfernt) Version von Voß. Was wäre aber die beste Form, in die sich beide Konzepte wandeln könnten? Einerseits eine nur wenig interpretierende, sehr präzise Prosaübersetzung, die einem unkundigen Leser ein echtes Äquivalent, besonders hinsichtlich Syntax und Semantik, bietet, andererseits eine kunstvolle Versübertragung, die Textart behält und schon durch Metrum und Sprachhöhe auch selbst als Dichterleistung gelten kann - mit den unumgänglichen Schwächen bei der Genauigkeit.
Eine für den Anfang genießbare Mitte schien mir eine Prosa zu sein, die die Anzahl der Hebungen behält (und damit in der Regel in Daktylen/Anapästen endet, mit härten aber in der Betonung und "unschönen" Kadenzen), also dem Leser vor Augen führt, dass das unerreichte Original gedichtete Sprache ist, dabei aber mit großer Anlehnung an das Lateinische aufwarten kann.
Wenn dabei unverständliche Sätze entstehen, ist es also der schwierigen Sprache des Horaz geschuldet, Doppeldeutigkeiten wie in " ...ob zur heutigen Menge..." sind natürliche ein zusätzliches deutsches Kasusproblem. Es ist zutreffend, dass man aus einer solchen Übersetzung (ohne, zuweilen auch mit Originaltext) nicht unbedingt schlauer wird! Dafür bedürfte es einer interpretiernden Übersetzung.
Noch besser wäre freilich eine ganz prosaische, exakte und trotzdem leserliche Übersetzung oder eine poetische Übertragung im Versmaß gewesen, doch keines davon war ich imstande umzusetzen. Dass der Kompromiss faul würde, war abzusehen
Nun zu Einzelheiten:
Dieses Gedicht lebt unter anderem von seinen Numerusvariationen. Gerade hier wird das Konzept von oben offenbar:
So wie es notwendig ist, gewisse Wörter (Pluraliatantum etc.) in den jeweils anderen Numerus zu setzen, unabhängig von der Idee der Übersetzung, so schwierig wird es bei Wörtern, die statthaft, aber selten in einem bestimmten Numerus stehen. Hier ist zu fragen, warum dieser gewählt wurde (metrischer Zwang, inhaltlicher Aspekt, poetischer Plural) und wie er umzusetzen ist. Dass man hier automatisch in die Interpretation abgleitet, ist ein Faktum. Das ungewöhnliche "nives" drückt sicher die (Über)menge aus, hat jedenfalls eine echte Quantitätenrelation. "Gramina" dagegen könnten als eine Vielzahl von verschiedenen Gräsern zu verstehen sein, dann hätte ich es beibehalten müssen, oder es sind (analog zu comae) die Halme eines einzigen Grasfeldes oder mehrere solcher Grasflächen gemeint, was meinen Singular als Kollektivum rechtfertigen mag.
v.3 scheint sich um eine Junktur zu handeln, deren Plural hier, wie du richtig bemerkst, praktisch ist. Den Numerus zu wechseln habe ich mich eben aufgrund dieser festen Wendung nicht getraut und auch deshalb, weil mit dem Plural eher die einzelnen Schritte vom Winter zum Frühling als die ganzen Jahreszeiten gemeint sein könnten.
v.13 ist ohne Frage die schwierigste Stelle ( der in der Stilhöhe einer Chorstrophe der Attiker nicht nachsteht, wie ich finde)
Das Deutsche bleibt ebenso rätselhaft wie das Lateinische, auch wenn wir beide wissen, was da gemeint sein dürfte. Der Plural hier wiederum kann kaum rein formaler Natur sein, auch eine eigentlich Mehrzahl scheidet strikt aus; was bleibt ist die Auffassung, dass die verschiedenen Zustände als Mehrheit ein und derselben Sache bezeichnet werden sollen, weswegen ich die erweiternde Phrase "Stände des Mondes" für angemessen gehalten habe.
Insgesamt aber war ich sowohl von dem hybriden Ansatz als auch von der Umsetzung enttäuscht und du hast sehr Recht, Tiberis, wenn du den Text als unentschlossen und mangelhaft ansiehst., jedenfalls wird er weder dem Deutschen und seinen Möglichkeiten, erst recht nicht Horazens Kunst, gerecht.
Es war ein Versuch, aus dem man lernen kann und ich hoffe, dass sich dann mit der Zeit eine gesündere Form und tüchtigere Umsetzung entwickeln wird....
Nochmal vielen Dank für deine Mühe, so habe ich ja die erhofften Impulse bekommen, was vielleicht allen nützen mag.
LG,
Sokrates