Mir scheint folgendes recht plausibel:
Das Lateinische hat in unserem Fremdsprachenkanon (Gymnasium) eine gewisse Sonderstellung, weil
a) Tempusformen und Kasusformen sehr häufig synthetisch gebildet werden, Informationen über KNG und MTPNG stecken also oft in einem Wort (und nicht in einem Artikel, einem Pronomen usw)
b) Die Stellung von Satzgliedern ist verhältnismäßig frei, anders als etwa die SP0--Struktur im Englischen
c) Daraus folgt, dass die Kohärenzen (Attribut-Kongruenz, Prädikat-Subjekt-Kongruenz) oft nicht mehr intuitiv zu erfassen sind. Daher erzwingt Latein vielfach ein zeitverzögerndes Rezipieren und ein Reflektieren der Satzstruktur.
d) Dabei ist die besonderen Aufmerksamkeit und der detektivische Spürsinn für die - sit venia verbo, Tiberis - Puzzlestruktur des Satzes und die Puzzlestruktur des Verbs oder Nomens zwingender erforderlich als in vielen anderen Sprachen: Latein ist eine Detektivsprache
e) Daher wird Latein auch sehr gerne als eine zu Analyse und Reflexion zwingende Sprache gesehen. Recht häufig wird dabei beklagt, dass in dieser Perspektive gesprochene Sprache zu kurz kommt, dass vielfach soviel Aufmerksamkeit gefordert und von Formalien absorbiert wird, dass das Verstehen eines Satzes und eines Textes zu sehr in den Hintergrund rückt. Ambivalenzen fetter Art.
f) Insofern Gleichungen und lateinische Puzzlesätze vielfach eine langsame Aufhellung erfordern, sind Mathematik und Latein cum grano salis vergleichbar. Daraus dann eine Wesensverwandtschaft abzuleiten überstrapaziert (sic) die Valenz von Analogien.
g) Die Punkte a bis f werden gerne als Argumente dafür gesehen, dass man Caesartexte oder Cicerotexte zeitverzögert erschließen muss oder darf. Und dass wohl selbst ein Native Speaker (Alter Römer) nicht auf Anhieb Caesar-Kurzsätze, Cicero-Langperioden, Senecas Brevitasstil versteht, sondern reflexiv ansetzen muss, wenn er denn überhaupt intensiv verstehen will.
h) Ähnlich wie selbst der Deutsche mit gewissen Texten von Schiller, Bismarck, Mann seine liebe Not haben dürfte, wenn er sich einfach auf ihren Sog einlässt. Das Ziel ist weniger die Kommunikation, sondern Kognition und Analyse ...
i) Tiberis hat einmal über Versuche geschrieben, mit kommunikativ orientierten Lehrbüchern zu arbeiten, die den Schüler (und den Lehrer) nicht in das tradierte Prokrustesbett zwingen. (und nicht die hohe Lektüre hagiografisch zu verklären ......)
j) Viele Anhänger der lateinischen Sprachbildung behaupten den hohen "Bildungs-Wert" ihrer Domäne hinsichtlich Konzentration, Ausdauer, Durchhaltevermögen, Ambiguitätstoleranz (1:1 Wiedergabe von lateinischen Konzepten nicht immer möglich), rationales, systematisches Arbeiten.... Und müssen sich dann selbstverständlich einiges an Gegenargumenten anhören
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Ein wenig Anregung zu kritischer Würdigung in großer Bandbreite (Blauäugigkeit bis überzeugendes Plädoyer) dürfte folgender Text bieten
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Erwerb von Empathie durch Latein
Für die Ausbildung künftiger Priester kommt dem Erlernen der lateinischen Sprache nach wie vor bleibende Bedeutung zu. Nicht nur als Sprache der Liturgie – wie das Zweite Vatikanische Konzil sagt (SC, 36) – in der sie gerade als fremde und alte Sprache zur „Verhüllung des Mysteriums“ geeignet ist und so dem „urtümlichen Empfinden und einer unmittelbaren Ehrfurcht vor dem Unzugänglichen“ entgegenkommt „und zugleich signalisiert“ (Otto Kuss), sondern auch für das Quellenstudium ist die lateinische Sprache unerlässlich.
Darüber hinaus aber ermöglicht und fördert die Lektüre lateinischer Texte den Erwerb und die Aneignung einer für den Priester wichtigen pastoralen Fähigkeit: der Empathie. Darunter versteht man das Vermögen, sich in eine andere Person, in deren Lebens- und Denkwelt hineinzuversetzen. Auf dem breiten Boden der Seelsorge geht es darum, den Menschen „abzuholen“, wo er steht, und ihn von dort in die Weite des Mysteriums der Offenbarung und des Heiles hinüberzubringen. Das setzt beim Priester (und bei anderen, die pastorale Aufgaben in der Kirche übernehmen) die Fähigkeit voraus, sich den Denk- und Lebenshorizont des anderen eigen zu machen. Das ist gemeint mit Empathie. Sie ist, wie der Name schon sagt, nicht nur ein kognitiver Prozess des Sich-Hineindenkens in die andere Person, sondern schließt auch ein affektives Einswerden mit dem anderen ein. Empathie meint den Doppelschritt des Sich-Hineindenkens und des Sich-Einfühlens. Diese zentrale für die Seelsorge wichtige Fähigkeit muss gelernt und eingeübt werden. Dabei kann die Beschäftigung mit Latein von nicht zu unterschätzendem Nutzen sein. Denn bei der Übersetzung von der Ausgangssprache Latein in die Zielsprache, die eigene Sprache, geht es darum, den Text genau zu beobachten, die Sätze zu analysieren, deren Sinn zu erfassen und sich in sie hineinzudenken. Der Übersetzer muss sich den Inhalt des Gelesenen klarmachen, ihn beurteilen und schließlich kritisch und einfühlend zum Inhalt Stellung nehmen. Die Übersetzung lateinischer Texte aktiviert die Geistestätigkeiten. Der Übersetzer wird angehalten, beim Übersetzen über den Vorgang des Übersetzens nachzudenken. „Übersetzen wird ihm als ein Akt der Kommunikation und des schöpferischen Gestaltens bewußt, demnach als eine seit je geübte Grundäußerung der zwischenmenschlichen Begegnung, als eine Leistung, die Phantasie, Einfühlungsvermögen und die Fähigkeit verlangt, das in der fremden Sprache Erfaßte aus dem eigenen Sprachgeist neu zu schaffen“ (Friedrich Maier).
http://www.kathnews.de/latein-ist-durch-mathematik-nicht-zu-ersetzen